Ein Platz am Tisch ist noch frei. Der leere Stuhl lädt ein, sich in die Runde der Spielerinnen zu setzen und ein Partie Rummikub mitzuspielen …
Dieses Bild könnte bald riesengroß eine Hausfassade im Stadtfeld einnehmen. Der Entwurf stammt von der britischen Künstlerin Helen Bur, die mit ihren beeindruckenden Wandgemälden international unterwegs ist. Ihre hyper-realistischen und zugleich traumhaft-meditativen Bilder zieren Hausfassaden nicht nur in England und Schottland, sondern auch in Frankreich, Italien, Spanien, Portugal, in Belgien, Luxemburg und der Schweiz, in den skandinavischen Ländern Schweden, Finnland, Norwegen, und in noch ferner Regionen, wie den USA, in Afrika und Indien. Und nun bald auch wieder in Deutschland … in Hildesheim, im Stadtfeld.
Die Weltenbummlerin Helen Bur hat sich einladen lassen, dem Stadtfeld Gesicht zu geben. Zu ihrem Entwurf inspiriert hat sie ein Foto, das sie beim Blättern in der Ergebnisbroschüre des „Stadtfeld zeigt Gesicht“-Beteiligungsprozesses entdeckt hatte. Eine türkische Familie an einem Gartentisch auf dem Rasen vor der Haustür, die Spielsteine mit den bunten Zahlen vor sich, schwarzer Tee aus Chai-Gläsern. Ein Platz am Tisch ist noch frei … diese Szene, die bald auf der Giebelfassade der Triftäckerstraße 31 aufgemalt sein könnte, erzählt von Gastfreundschaft, von der Bereitschaft, das Unerwartete willkommen zu heißen, den Fremden zum Freund zu machen.
Burs Alternativ-Entwurf für die Fassade ist nicht weniger faszinierend. Hier scheint die Hauswand zu verschwinden, um den Blick in ein privates Wohnzimmer freizugeben. Eine junge Mutter sitzt aufgerichtet in einem Lehnsessel. Sie hält einen runden Spiegel in der Hand, in dem sich das Gesicht des Kleinkindes spiegelt, das sich an den Knien der Mutter hochgezogen hat. Die neugierigen Augen des Kindes begegnen dem Blick des Betrachtenden. Es ist ein geheimnisvolles und nachdenkliches Bild, das viele Interpretationen zulässt. Es erzählt von Nähe und Distanz, von Eltern-Kind-Beziehungen, davon Identität zu finden und Identität zu verleihen.
Ole Görgens jedenfalls ist begeistert, dass sich so viele hochkarätige und renommierte Fassaden-Kunstschaffende wie Helen Bur für „Stadtfeld zeigt Gesicht“ haben gewinnen lassen. Görgens ist selbst Graffiti-Künstler, der sich mit seinem „Sprühwerk“ selbständig gemacht hat und nun seit vielen Jahren professionell und erfolgreich mit seiner Kunst unterwegs ist. In Hildesheim hat er bereits zahlreiche Werke gestaltet und auch im Stadtfeld ist Görgens kein Unbekannter – der Dschungel-Tunnel, die Bushaltestelle, das Stadtfeld Mobil und noch andere Fassadenbilder stammen von ihm. So hat er sich von der Kulturfabrik Löseke auch schnell und gern für die fachliche Begleitung der künstlerischen Umsetzung des Projektes „Stadtfeld zeigt Gesicht“ gewinnen lassen.
Gleich vier großformatige Fassaden im Wohnblock-Bereich sollen ein neues Gesicht bekommen. In Anbetracht der international renommierten Künstler:innen-Auswahl hat der Beamten-Wohnungs-Verein (BWV) als Eigentümer die ausgewählten Fassaden gerne zur Verfügung gestellt. „Ich bin wirklich begeistert über die Auswahl, die die Kulturfabrik da auf die Beine gestellt hat,“ bekennt BWV-Geschäftsführer und Kunstliebhaber Wolfgang Dressler.
Neben der hohen Qualität der vorgelegten Entwürfe besticht in den Augen des Künstlers Ole Görgens vor allem die Unterschiedlichkeit und stilistische Eigenständigkeit der ausgewählten Bewerber:innen. „Wir haben da wirklich eine breite Palette ganz unterschiedlicher Herangehensweisen“ freut sich Sprüh-Künstler Görgens.
Auf einem Entwurf für die Giebelfassade der Triftäckerstraße 46 steht ein Kind im Mittelpunkt, das freudestrahlend ein leuchtendes Strichmännchen in die Luft malt. Im Hintergrund spazieren die Erwachsenen vorbei, deren Blick starr aufs Smartphone gerichtet ist. Das Künstlerkollektiv Innerfields aus Berlin ist bekannt für seine realistischen und humorvollen Darstellungen, hinter denen sich zumeist pointierte zeit- und gesellschaftskritische Botschaften verbergen, die innehalten lassen.
Auch der zweite Entwurfsvorschlag von Jakob Tory Bardou und Holger Weißflog, die gemeinsam das Künstlerkollektiv Innerfields bilden, greift das leuchtende Strichmännchen auf – diesmal tanzen die Figuren auf der Handfläche eines Paares, das sich unter einem Regenschirm zusammendrückt, um sich vor dem Informationsregen der Social-Media-Icons zu schützen, der vom Himmel auf sie einprasselt. Das Strichmännchen, das hier für spielerische Kreativität und kindliche Freiheit und Unbefangenheit gegenüber der technisierten Welt steht, ist nicht zufällig gewählt. Die Kinderzeichnung entstand während einer der Beteiligungen im Stadtfeld – das Berliner Künstler-Duo hat die Figur aus der Kinderzeichnung aufgegriffen und ihre eigene Gestaltungs-Idee darum entwickelt.
Geht es um das pralle Leben und die bunte Vielfalt des Stadtfelds, so sind wohl die beiden Entwürfe des ebenfalls aus Berlin kommenden Künstler-Kollektivs The weird: DXTR + Rookie die treffendsten. Unter den Oberthemen „Nachbarschaftliche Aktivitäten“ und „Gemeinschaft und Geselligkeit“ haben sie jeweils einen bunten Blumenstrauß aus den Beteiligungsergebnissen von „Stadtfeld zeigt Gesicht“ gebunden. The weird möchte die Fassade der Triftäckerstraße 63 in ein wahres Wimmelbild verwandeln, wobei sie ein großes Spektrum der gemeinschaftsstiftenden Themen präsentieren und zu einer surreal anmutenden Gesamtkomposition verbinden: Kuchen essen, Gärtnern, Fußballspielen oder Musizieren – bei Dennis Schuster (alias DXTR) und Robert Matzke (alias Rookie) gibt es viel zu entdecken und zu bestaunen. In ihren gemeinsamen The weird-Arbeiten bewahren DXTR und Rookie aber ihren individuellen Stil. Fantasievoll und skurril lässt Rookie musizierende Tiere auftreten, während Künstler-Kollege DXTR einzelne Elemente wie überdimensionale Tortenstücke oder Spielkarten beisteuert, die in Pixel-Art an Computerspiele wie Mindcraft erinnern.
Für die aus Hannover stammende und in Berlin arbeitende Künstlerin JuMu Monster wurde ein ganz anderes Thema für „Stadtfeld zeigt Gesicht“ zentral: die Erfahrungen der Corona-Pandemie, mit den tiefgreifenden Einschränkungen während der Quarantäne. In JuMu Monsters kraftvollen Entwürfen für die Triftäckerstraße 40 geht es um Freiheit (symbolisiert durch einen Vogel) und um Auf- und Ausbruch (dargestellt durch ein Pferd und einen gestiefelten Vogel). JuMu Monster arbeitet gerne mit starken Symbolen und ihre lebendigen und fantasievollen Bilder atmen die lateinamerikanische Kultur. Mit chilenisch-peruanischen Wurzeln ist die vielseitig aktive Künstlerin JuMu fasziniert von Kostümen, Bräuchen und Tänzen der lateinamerikanischen Völker, die sie nicht nur in der Malerei, sondern auch in Installationen, Bühnenbildern und Performances zum Ausdruck bringt. Die Murals (Wandmalereien), die JuMu Monster für das Stadtfeld entworfen hat, erzählen in einem kulturellen Brückenschlag, wie die Gemeinschaft im Stadtfeld die Zeit von Isolation und Trennung überwunden hat und nun, nicht zuletzt mit der Kraft der Fantasie und Kreativität in eine neue Zeit aufgebrochen ist.
Jana Kegler, Mit-Geschäftsführerin von der Kulturfabrik Löseke e.V., freut sich, dass mit dieser vielseitigen und hochkarätigen Künstler:innen-Besetzung das Projekt „Stadtfeld zeigt Gesicht“ nun in die konkrete Umsetzung geht. Gemeinsam mit Maren Pfeiffer begleitet Stadtkultur-Aktivistin Kegler bereits seit 2021 die Umsetzung. Was „Stadtfeld zeigt Gesicht“ für sie besonders auszeichnet: „Es ist mehr als ein Graffiti-Projekt!“ Kegler erklärt: „Es ist ein partizipativer Prozess, der die künstlerische Energie und Vielfalt der Gemeinschaft im Stadtfeld aufgreift“.
In der ersten Phase des Beteiligungsprozesses gingen Kegler und Pfeiffer im Auftrag der Stadt Hildesheim in der Nachbarschaft auf Forschungsreise. „Was bedeutet es, wenn Stadtfeld sein Gesicht zeigt?“ Mit dieser Frage gingen sie den Gemeinschaften im Stadtteil auf die Spur – erst digital, dann auch auf den Straßen und an den Zäunen. Die Ergebnisse in Form von Zeichnungen, Fotografien und Gesprächsnotizen wurden in einer Broschüre aufbereitet. Diese wiederum wurde zur Grundlage und Inspirationsquelle der Künstlerinnen und Künstler für ihre Entwürfe.
„Nun ist der nächste Schritt der Beteiligung geplant“ erläutert Anna Arlinghaus, Stadtplanerin bei der Stadt Hildesheim, die das Projekt „Stadtfeld zeigt Gesicht“ im Rahmen der Städtebauförderung „Sozialer Zusammenhalt“ koordiniert. Die Entwürfe der ausgewählten Künstler:innen liegen vor. „Jetzt sind die Bürger:innen gefragt!“ eröffnet die Stadtplanerin. Zum 01.08.2023 startet hierfür das große Voting.
Quartiersmanagerin Lena Rosenau vom Planungsbüro Plan Zwei aus Hannover erklärt das Verfahren: „Den Künstler:innen wurde je eine Fassade zugewiesen und sie haben zwei Entwürfe dafür vorgelegt. Welcher der beiden Entwürfe am Ende auf die Wand kommt, darüber sollen die Nachbar:innen mitentscheiden.“ Dazu wurde ein Voting vorbereitet, an dem online oder per Wahlkarte noch bis zum 20.08.2023 teilgenommen werden kann. „Die Stimme der Bürger:innen machen im Abstimmungsverfahren feste fünfzig Prozent aus“, hält Rosenau fest.
„Die anderen fünfzig Prozent liegen bei einer fachlich besetzten Jury“, setzt Anna Arlinghaus fort, „die sich aus Vertretungen des Kulturreferats, der Ortspolitik, der Wohnungswirtschaft und der Stadtteilsozialarbeit zusammensetzt.“ Auf diese Weise errechnet sich am Ende das Wahlergebnis. „Dieses werden wir beim Stadtteilforum am 31.08.23 im neuen Quartierszentrum Stadtfeld öffentlich präsentieren!“ blickt Lena Rosenau voraus. Und Ole Görgens ergänzt: „Die künstlerische Umsetzung an den Fassaden wird dann im Herbst erfolgen.“
Die Spannung und Vorfreude ist dem Organisationsteam von „Stadtfeld zeigt Gesicht“ jedenfalls deutlich anzumerken. „Wir sind natürlich schon sehr gespannt, wie die Abstimmung ausgeht!“ sagt Quartiersmanager Jens-Hendrick Grumbrecht, der als Sozialarbeiter für den Gemeinwesenentwicklung Stadtfeld seit vielen Jahren im Stadtteil arbeitet. Am liebsten hätte Grumbrecht acht Fassaden zur Verfügung – denn eigentlich ist es schade, um jeden Entwurf, der am Ende nicht umgesetzt werden kann. Wer die Wahl hat, hat bekanntlich auch die Qual – und die Wahl ist jetzt eröffnet.
„Machen Sie mit!“ appelliert Stadtplanerin Arlinghaus vor allem an die Nachbarinnen und Nachbarn, die im Stadtfeld wohnen. Die Wahlpostkarten, die in alle Briefkästen verteilt wurden, können im Stadtteilbüro, bei Sandras Kiosk oder in der Kulturfabrik abgegeben werden. Noch einfacher und schneller geht es mit der Online-Abstimmung.
In der Wahlzeit lädt die Kulturfabrik zu verschiedenen Terminen und an unterschiedlichen Orten zu „Wahlpartys“ ein. Dass das nicht einfach nur Werbeveranstaltungen sind, machen Jana Kegler und Maren Pfeiffer deutlich. Getreu dem Motto „Stadtfeld zeigt Gesicht“, sollen die Anwohnenden weiterhin unmittelbar beteiligt sein. „Wir wollen die Menschen ins Gespräch und in Diskussion bringen!“ erläutert Jana Kegler.
Am 12.08. startet um 15:30 Uhr das „Wohnzimmer live!“ eine kreative Aktion bei Sandras Kiosk (Triftäckerstraße 14). Am 17.08., wieder um 15:30 Uhr, wird zu einem Eis eingeladen. Am Abend des 19.08.23 wird ab 20:30 Uhr schon Ausblick auf eine Fassade eröffnet – Abendimbiss inklusive.
Dann werden unter den Fenstern des Stadtteilbüros, gegenüber des neuen Quartierszentrums, die Tische zusammengeschoben und die Nachbarn rücken zusammen. Herzlich willkommen! An der Tafel ist gewiss noch ein Stuhl frei …
Weiterführende Information:
Link: Hier geht's direkt zur Online-Abstimmung
Download: Basis-Information Stadtfeld zeigt Gesicht (Präsentation mit allen Infos zur Abstimmung Stadtfeld zeigt Gesicht)
Link: Kulturfabrik Löseke e.V. - Kategorie Stadtfeld zeigt Gesicht (Noch mehr Infos zu den Künstler:innen, Entwürfen, Termine, u.a.)
Link: Ergebnisbroschüre Stadtfeld zeigt Gesicht-Beteiligung (Mit Download-Möglichkeit der Broschüre)